Leseprobe: Gold ist eine Glaubensfrage

Ich schaute Kira an, als ob mich der Wind gar nicht stören würde. »Wir sind auf dieser Seite und schlagen auf«, mehr sagte ich nicht. Innerlich dachte ich natürlich: »Sch…, die ersten sieben Punkte im Olympiafinale und wir sind auf der falschen Seite.« Dieser Moment blieb auch bei Morph im Gedächtnis, wie er mir später erzählte. Er machte sich große Sorgen, als er den Wind bemerkte: »Shit, shit, shit«, fuhr es ihm durch den Kopf. Beschwörend murmelte er mehrmals den Satz: »Bewegt eure Beine. Macht Beinarbeit, bewegt eure Beine«, als ob er seine Gedanken zu uns transportieren könnte. Im Sand strengt die Beinarbeit auch unter normalen Bedingungen sehr an. Wegen des Windes mussten wir noch mehr arbeiten, um uns im letzten Moment noch an die vom Wind geänderte Flugkurve anzupassen. Ich schlug mit einem Topspin Aufschlag auf. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, dass wir diese Variante nicht oft geübt hatten. Doch der Wind wehte so heftig, dass ich wusste, dagegen konnte ich anprügeln. Vielleicht hatte ich das Urvertrauen in diesen Aufschlag schon 2007 mit Sara in Espinho gewonnen.

Damals lagen wir gegen ein favorisiertes brasilianisches Team 15 : 20 zurück, als ich meine Topspin-Aufschläge auspackte. Wir drehten das Spiel zum Sieg und erreichten das erste Mal in unserer Karriere ein Finale. Mit diesem Turnier begann unsere Erfolgsserie. Den ersten Aufschlag hatte ich noch direkt auf Bárbara gespielt. Beim zweiten rechnete ich mir aus, dass der Ball direkt auf die Linie kommen müsste, wenn ich einen Schritt zur Seite ging. Ich probierte es aus, denn es war besser, jetzt ein Risiko einzugehen und das Verhalten des Windes zu erspüren, als den Mut zu verlieren. Ich fühlte unendliche Erleichterung, als die ersten Punkte gut liefen. Wir konnten mit einem 3 : 4-Rückstand wechseln. Das war unter diesen Bedingungen fast optimal und das Vertrauen wuchs. Kira merkte, dass sie sich auch bei diesem Wind auf meine Zuspiele verlassen
konnte. Nicht alle konnte ich perfekt platzieren, aber unter den Umständen gingen sie noch als brauchbar durch.

Ich spürte, wie ich meinen Kopf immer besser unter Kontrolle bekam, die Geduld fand, mich in das Finale hineinzuarbeiten. Kira schien nicht nervös, im Gegensatz zu den Spielen bis zum Finale. Sie machte schon beim Aufwärmen einen ruhigen Eindruck, zeigte sich absolut fokussiert, was mir sehr viel Sicherheit gab (wissend, dass ich am Schwimmen war). Für sie war der Moment gekommen, ab dem es nur in Richtung Sieg ging. Sie stand bei ihren ersten Olympischen Spielen im Finale, hatte mehr erreicht, als viele von ihr erwartet hatten. Jetzt spielte sie an meiner Seite, als ob sie schon viele Male um Gold gekämpft hätte. Selbst nach Fehlern reagierte sie völlig entspannt. Kira half mir enorm. Riesenrespekt – auch heute noch.

Nach dem ersten Seitenwechsel spürte ich, dass meine Routinen funktionierten. In der technischen Auszeit redete ich auf sie ein, dass wir Ruhe bewahren mussten, mutig anlaufen und hart schlagen sollten. Wir hatten uns vorgenommen, viel über Ágatha zu spielen, denn Bárbara hatte eine fantastische Spielübersicht, zudem beherrschte sie sehr viele Varianten in ihren Schlägen. Allerdings bemerkten wir, dass Bárbara ihre Qualität nicht ausspielen konnte, weil die Zuspiele unter dem Wind litten. So zeigte ich an, die Taktik anzupassen. Offensichtlich agierten die Brasilianerinnen anders als sonst. Ihre Mienen schienen versteinert. Ich versuchte, den Ausdruck zu interpretieren. Verbissenheit glaubte ich zu erkennen. Ihren Bewegungen fehlte das Spielerische. Ich fühlte, dass wir authentischer unser Spiel durchzogen. Beim Stand von 13 : 13 packte Kira ihren »Monsterblock« aus. 17 : 13. Die in leuchtendem Gelb und Regenwaldgrün gekleideten Fans wurden merklich stiller. Den ersten von drei Satzbällen verschenkten wir noch. Dann gelang mir ein gefühlvoller Ball diagonal ins linke Halbfeld der Gegnerinnen. Satz eins entschieden wir 21 : 18 für uns.

Im zweiten Satz erreichten wir, was uns noch im ersten Durchgang gefehlt hatte: die letzte Konsequenz. Wir waren so sicher in unserem Zuspiel, während die Brasilianerinnen angesichts der drohenden Niederlage ihre Genauigkeit verloren. Ich schaffte es, von Punkt zu Punkt zu denken. Den Spielstand nahm ich erst gegen Ende wahr, als wir bereits eine 18 : 12-Führung erspielt hatten. Es war unfassbar. Das ganze Finale über war ich so konzentriert gewesen, dass ich gar nicht an den Sieg gedacht hatte, sondern mich nur auf meine Bewegungen und die aktuelle Spielsituation fokussiert hatte. Mir schoss es plötzlich durch den Kopf: »F***, f***, f***! Wir können es schaffen!« Obwohl ich versucht hatte, nicht auf die Tafel zu schauen, hatte ich dennoch die Zahl 20 wahrgenommen: erster Matchball. Den vergaben wir noch. Dann der zweite. Bárbara würde auf mich aufschlagen. Das war mir klar. »Bleib bei deinen Routinen, bleib bei deinen Routinen …«, redete ich mir ein. Würde ich nur ein wenig meine Konzentration verlieren, hätte das Auswirkungen auf meine Bewegung. Dazu kam der böige Wind, der es erschwerte, den Ball in den Sand zu drücken. Der Aufschlag flog an mir vorbei, ins Aus. »Das ist jetzt nicht ihr Ernst«, dachte ich. Um 00:42 Uhr brasilianischer Zeit waren wir Olympiasiegerinnen. Kira ging auf die Knie, schrie so laut sie konnte: »Jaaa!« Jahrelang hatte ich mein Leben meinem Beruf untergeordnet. Der 80. Geburtstag meiner Oma Hilde wurde ohne mich gefeiert, genauso wie fast alle anderen Familienfeste. Auf meinen Teller kam nur, was sich mit Training und Wettkampf vereinbaren ließ. Training nach Plan, Essen nach Plan, Regeneration nach Plan.

Und jetzt hatte ich einen neuen Plan: mein Wunschkind. Wir saßen beim Teammeeting zusammen, nachdem wir bei den deutschen Meisterschaften in Timmendorf im Viertelfinale gegen Karla Borger und Margareta »Kusia« Kozuch ausgeschieden waren. Ich eröffnete Kira, dass ich 2018 komplett aussetzen würde, weil ich schwanger werden wollte. Gleichzeitig erklärte ich, dass ich schon ein Jahr später wieder in die Olympiaqualifikation für Tokio einsteigen würde. Mit anderen Worten: Ich hatte mich maximal unter Druck gesetzt. In diesem Moment konnte ich natürlich noch nicht ahnen, dass das Schicksal uns fast zeitgleich mit der Mutterrolle beschenken würde. In meinem Kopf hatte ich einen genauen Plan für das »Projekt Titelverteidigung« (auch wenn ich es nach außen nie so genannt hätte). Ich war überzeugt, dass wir noch besser spielen konnten. Nach so vielen Rückschlägen und Verletzungen lautete die logische Frage: Was wäre möglich, wenn wir uns ohne Pausen vorbereiten könnten? Außerdem: Gewinnen fühlte sich gut an. Titel verteidigen stellte ich mir großartig vor.

Der Startschuss für mein Wunschkind fiel im September 2017. Unser Physiotherapeut Jochen kannte meinen Körper am besten. Also fragte ich ihn, wie lange ich idealerweise Zeit hätte: Bis Februar 2018 sollte ich schwanger sein.Natürlich kannte ich Geschichten aus unserem Freundeskreis von Paaren, die lange und dann immer verzweifelter versucht hatten, eine Familie zu gründen. Anett schlug vor, zu einer chinesischen Heilpraktikerin zu gehen. Alles klar, warum nicht? Mir gefiel die Idee, mit einer Expertin zu sprechen, die mich nicht als Sportlerin kannte. Ich rief sie also an. Sie bat mich, alle Untersuchungen mitzubringen. Ich zögerte: »Wir haben eigentlich kein Problem, nur wenig Zeit«, gestand ich. Sie schwieg eine Weile. »Okay, kommen Sie dennoch.« Ich stellte mir eine ältere Chinesin vor, stattdessen öffnete mir eine blonde junge Frau die Tür. Sie empfahl mir einen Tee. Noch bevor ich die Kräutermischung kaufen konnte, hielt ich einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Die nächsten Monate ernährte ich mich nur von Schokolade und Brot, denn alles andere konnte ich weder riechen noch essen. Schon wenn ich den Kühlschrank öffnete, ich Essen sah und den Geruch wahrnahm, wurde mir übel. Ständig stützte ich meinen Bauch mit beiden Händen. Mein Killerinstinkt auf dem Platz war einem Beschützerverhalten gewichen. Ich bewegte mich sehr vorsichtig, damit es meinem Baby gutging. Die Müdigkeit schien nie enden zu wollen, außerdem geriet ich schon beim Steigen weniger Treppenstufen aus der Puste. Mein Leben in den ersten Wochen mit Teo im Bauch bestand aus schlafen, behutsamem Trainieren und Schokolade essen. Jochen, unser Physiotherapeut, bemerkte, dass ich den Kontakt zu meinem Körper zu verlieren drohte. Er erdete mich und meinen Körper mit dem klugen Satz: »Du kannst deine Bauchmuskeln ruhig noch benutzen« – und fügte erklärend hinzu: »Es tut auch deinem Kind gut, wenn du ihm von Anfang an Grenzen zeigst, anstatt übertrieben vorsichtig zu sein.« Dieser Gedanke half mir, ein Gleichgewicht zu finden. Ich begann besser auf meinen Körper zu hören und nicht mehr nur ausschließlich Rücksicht auf mein Kind zu nehmen.

Manchmal fehlte mir die Kraft für die zweite Einheit, dann setzte ich mich in den Sand, schaute Helke mit müden Augen an und bat: »Lass uns doch bitte einfach nur etwas trinken.« An Weihnachten schenkten wir unseren Familien Ultraschallbilder. Bald erfuhren wir, dass es ein Junge werden würde. Im sechsten Monat flog ich noch in ein Trainingslager nach Long Beach in den USA. Dort lebte ich mit Helke, einigen Spielerinnen und Morph in einem Haus. Die Trainingseinheiten machten Spaß, auch wenn ich immer weniger springen konnte. Meine Beinmuskeln streikten einfach. Der Bauch wurde jetzt richtig dick, an manchen Tagen geradezu angespannt. Je nach Tagesform nach dem Mittagsschlaf machte ich mit oder setzte mich ans Feld, stützte den Kopf auf den Ball und schaute den Mädels zu. Ich las Artikel über Leichtathletinnen, die noch im sechsten Monat sprinteten, aber das ging bei mir nicht. Im Kraftraum tauschte ich Fahrrad gegen Gewichte. Helke verdrehte manchmal die Augen: »Och, komm jetzt.« Als sie später selbst schwanger war, verstand sie mich und meinte: »Ich weiß nicht, wie du das damals durchgehalten hast.« In meinem Kopf war Jürgens Satz zementiert: »Jede Einheit, egal wann, zählt für das, was du später leisten wirst.« Vielleicht fiel es mir deshalb schwer, locker zu sein. Ich trainierte jeden Tag, außer sonntags.

Allein wegen der Auge-Hand-Ball-Koordination profitierte ich sicher davon, dass ich so lange wie möglich am Ball blieb. Die Schwangerschaft mit Teo hatte mich befreit. Das Muss und der Druck waren weg. Ich fühlte mich großartig. In Pyeongchang bei den Olympischen Winterspielen traf ich Lena Gercke im deutschen Haus, die vor Ort war, um die olympischen Teilnehmer zu unterstützen. Weil ich voller Energie herumsprang und nie müde zu sein schien, meinte sie nur verwundert: »Alle Schwangeren, die ich kenne, bewegen sich anders und sind auch nicht so gut drauf.«

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