"Get the right people on the bus"

Antiautoritäre Erziehung, Wohnen auf drei Quadratmetern und schon die ersten Olympiasieger hervorgebracht: Warum Norwegens Volleyball-Schule ihresgleichen sucht.

Aus der Hobbyliga zu Olympia-Gold

ToppVolley Norge "produziert" zuverlässig Medaillen auf internationalen Jugendmeisterschaften, Profis in Beach und Halle, unzählige Collegestipendien und zuletzt sogar olympisches Gold. Dabei ist Volleyball in Norwegen mitnichten eine Volkssportart und hat große Schwierigkeiten, sich gegen den Wintersport und den Fußball durchzusetzen. Die Nationalkaderathlet:innen müssen hier in der Regel bezahlen, um an Turnieren und Trainingslagern teilzunehmen und die Elite-Liga in der Halle ist eine Hobbyliga. Wie lässt sich der stetige Erfolg ToppVolleys in dem acht Millionen Einwohner Land erklären?

Große Investitionen stehen an

Zu Beginn dieser Analyse lässt sich zunächst Folgendes festhalten: ToppVolley verfügt nicht über die beste Turnhalle, die beste Ausrüstung oder den größten Kraftraum. Die Unterbringung ist dürftig, die neusten Gebäude stammen aus den 1920er Jahren, die älteren wurden in den 1900ern erbaut und die „Erstklässler“ müssen sich mit ca. drei Quadratmeter Wohnraum zufriedengeben. Auch die Verpflegung gleicht eher einer Jugendherberge, als den Standards wie sie beispielsweise aus deutschen Nachwuchsleistungszentren im Fußball bekannt sind. Von personalisierten Essensplänen von Ernährungsexperten ist man hier weit entfernt, dafür liegt das Mittagessen auf der eher ungünstigen Zeit um 11:30 Uhr. Doch die Verantwortlichen von TVN sind sich all dieser Probleme bewusst und setzen dort an. So wird zum Beispiel die Wohnsituation im kommenden Jahr grundlegend verändert: Rund acht Millionen Euro werden in Neubau und Sanierung investiert. Doch wenn Equipment, Verpflegung oder Unterbringung nicht die Schlüssel zum Erfolg sind, was ist es dann?

Alle Talente an einem Ort

Unabhängig von allen Besonderheiten TopVolleys in Sachen Philosophie oder Trainingsinhalten hat das Internat einen entscheidenden Vorteil zu den Nachwuchszentren größerer Länder: Es gibt keine Alternative! Wer in Norwegen im Volleyball weiterkommen möchte, hat kaum eine andere Wahl, als nach Sand zu kommen. Die Heimatvereine sind beschränkt, denn beinahe alle Mittel und alle Expertise sammelt sich bei ToppVolley. Gerade im Winter ist die Beachhalle von TVN die einzige Möglichkeit, in Norwegen Beach-Volleyball trainieren zu können. Dies zieht alle Talente Norwegens am gleichen Ort zusammen und sorgt für eine gute Grundlage, um den Nachwuchs zu fördern. Allerdings sorgt die Abwesenheit von Infrastruktur und finanziellen Mitteln bei den Heimatvereinen für eine Unterversorgung in der Jugendarbeit, so dass die Schüler:innen mit sehr unterschiedlichem Trainingsstand im Internat ankommen.

Hier werden keine Volleyballer:innen, sondern Menschen ausgebildet

Das Alleinstellungsmerkmal verbirgt sich an einer anderen Stelle. Die Philosophie die hinter ToppVolley steht. Sie ist den Verantwortlichen so wichtig, dass stets zu Beginn des neuen Schuljahrs die gemeinsamen Werte mit der gesamten Schule neu ausdiskutiert und festgelegt werden. Das bestehende Wertegerüst wird den Schüler:innen vorgestellt und in verschiedensten Formen hinterfragt und neu aufgesetzt, damit die Schüler:innen einen Teil zum Prozess der Entstehung von Regeln und Pflichten beitragen können. Dieser Prozess zeigt die besondere Ausrichtung in den Grundsätzen des Internats. Die eigene Zielsetzung ist nicht in erster Linie auf die Leistungsoptimierung ausgelegt, sondern auf das Produzieren von „Bra Folk“, also guten Menschen. Die Persönlichkeits- und Charakterbildung steht an erster Stelle und bildet laut Internatsleitung das Fundament der Ausbildung. Dies spiegelt sich unter anderem in Inhalten wie der beschriebenen Orientierungswoche wider, aber auch im täglichen Umgang miteinander.


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Verantwortungsvolle Athlet:innen

Um das Ziel zu erreichen, möglichst gute Persönlichkeiten hervorzubringen, verfolgt ToppVolley einen anti-autoritären Ansatz: Es gibt kaum Regeln, die kontrolliert werden. Die Schüler:innen sind selbst für sich verantwortlich. Sie müssen rechtzeitig ins Bett gehen, die richtigen Dinge essen und ihre Schulaufgaben eigenständig erledigen. Wenn sie diese Dinge nicht tun, werden sie nicht vom Trainerteam bestraft, sondern sollen selbst merken, dass sie beispielsweise mit wenig Schlaf schlechter trainieren und hinter den anderen zurückfallen. Das soll in erster Linie verantwortungsvolle Athlet:innen hervorbringen, die auch auf sich allein gestellt funktionieren. Eine im Beach-Volleyball unabdingbare Fähigkeit. Ebenfalls soll es auch auf das Leben nach dem Sport vorbereiten. Eine Regel gibt es dann aber doch: Die Schüler:innen dürfen innerhalb des Orts Sand keinen Alkohol trinken oder kaufen. Was sie außerhalb der Ortsgrenzen tun, interessiert die Coaches wenig. Vorausgesetzt die Trainingsqualität bleibt erhalten. Der Fokus auf Eigenverantwortung ist in jedem Fall hervorzuheben, aber ob es der alleinige Grund für den Erfolg ToppVolleys ist, ist natürlich messbar.

Auf den Spuren von Kare Mol

Die letzte zu erwähnende Besonderheit des norwegischen Internats ist die Trainingsphilosophie, wenn man es so nennen kann. Denn eine gemeinsame Philosophie existiert explizit nicht. Die Leitung legt Wert darauf, die richtigen Trainer:innen zu finden, lässt diesen aber freie Hand. Lieblingszitat des Chefs Øyvind Marvik lautet: „Get the right people on the bus“! Der Fokus liegt, wie bei den Schüler:innen, zuerst beim Menschen. Verschiedenste Coaches aus vielen Ländern haben ToppVolley bereits durchlaufen und durften ihre Ideen einbringen und ausprobieren. Es gibt keine sportliche Leitung wie Sportdirektor:innen oder einen Headcoach, der einen richtigen Weg vorgibt. Vielmehr wird versucht voneinander zu lernen und auch den Athlet:innen verschiedene Herangehensweisen nahezubringen. So arbeiten momentan vier Norweger:innen, ein Deutscher und ein Holländer im Trainerstab. Auch wenn es keine vorgegebene Philosophie gibt, so wirken noch die Ideen vom ehemaligen ToppVolley-Coach und Vater von Anders Mol, Kåre Mol nach. Bekannt für seine spielnahen und wettkampforientierten Trainingsinhalte führte er ein wöchentliches Beach-Volleyballturnier ein, bei dem die Schüler:innen in einem Ligasystem auf- und absteigen können und sich so einen Platz ist den stärkeren Trainingsgruppen erspielen können.

Familiäre Atmosphäre ist spürbar

Es lässt sich festhalten, dass der Erfolg ToppVolleys aus verschiedensten Aspekten zusammengesetzt ist. Die Leidenschaft und das Herzblut, das von den Beteiligten in ihr Projekt investiert wird, mag das größte Alleinstellungsmerkmal sein. Ein großer Zusammenhalt und eine familiäre Atmosphäre werden dadurch für jeden vor Ort spürbar. Das Beispiel ToppVolley zeigt, dass Leistungsoptimierung und Persönlichkeitsentwicklung einher gehen können.

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